Teilen ist der Ernstfall

Gott steht auf der Seite der Armen. Wer ihn sucht, findet ihn bei den Armen am ehesten. Daran lässt die Bibel keinen Zweifel. Aber das heißt nicht: Gott will, dass wir arm sind.

Liegt in der Armut eine positive Perspektive?

Allein die Frage klingt gewagt. Denn Armut meint ja zunächst, dass Perspektiven verstellt und genommen sind. Pointiert ausgedrückt:
Wer arm ist, der hat keine Perspektive, und wer Perspektive hat, der ist nicht arm.
Vor diesem Hintergrund ist das Wort „positive Armut“ schwierig: schwierig zu verstehen und noch schwieriger zu bejahen. Dennoch hat Bischof Klaus Hemmerle in seinem Fastenhirtenbrief von 1989 dieses Wort gewählt, um einer ärmer werdenden Kirche Perspektive zu bieten: Solch eine Perspektive kann nur eine am Evangelium abgelesene Perspektive sein. Das Evangelium kennt keine Idealisierung der Armut. Es gibt zwar die freiwillig gewählte Armut als Lebensform in der Kirche. Aber um diese richtig zu verstehen, gilt: Armut ist zunächst keine Lebensform, die jemand sich selbst aussucht und dann ausgestaltet. Armut ist in der Logik der Evangelien kein anzustrebendes Ziel eigenen Handelns oder Seins; sie ist keine besondere Kunst oder Ergebnis einer spirituellen Bemühung. Armut ist schlicht Armut. In der eigenen Reflexion kann sie nicht mehr sein als eine ehrliche Zustandsbeschreibung des eigenen Daseins. Wer sich aber so vor Gott stellt, der wird seine Armut neu buchstabieren und verstehen lernen. In diesem Sinne geht es nie darum, arm zu werden. Vom Evangelium her gesehen geht es darum, die vorhandene eigene Armut wahrnehmen und sie von Gott her anschauen zu lernen. Das Evangelium lenkt nie den Blick auf eine abstrakt verstandene Armut, sondern immer auf die Armen.

Die Armut, verstanden als „evangelischer Rat“, hat darum nie mit einer abstrakten Armut zu tun, sondern in erster Linie mit den wirklich Armen: Den Armen gegenüber wird der eigene Blick geschärft, im Umgang mit ihnen hat sich der eigene Lebensstil zu korrigieren. Die Armen werden im Evangelium selig gepriesen, weil ihnen das Reich Gottes ohne jedes eigene Vermögen zufällt und gehört (vgl. Mt 5,3; Lk 6,20). Das Evangelium spricht und zwingt daher zu einer Option für die Armen und gegen ihre Armut: Die Armen – und nicht die Armut als ein von ihnen abgehobener Lebensstil – stehen im Mittelpunkt. Die Evangelien fordern auf zu einer konkreten Solidarität mit den Armen, so wie sie sind und wie sie uns begegnen. Allein die Zuwendung zu den Armen gibt den Rahmen vor, in dem sich eine unterscheidend christliche Spiritualität der Armut als „evangelischer Rat“ entwickeln lässt.

Armut: die Basis der Nachfolge

Schon die Prophetie des Alten Bundes macht deutlich, wie Armut biblisch zu verstehen ist. Die Armut wird von den Propheten als die wahre – wenn auch oft geleugnete – Realität Israels vorgestellt. Erst in der Annahme dieser Realität kann sich die Haltung Israels ändern. Israel wird zu dem Volk, in dem das Gute und das Gerechte von Gott erhofft werden. So wird – etwa bei Deuterojesaja (vgl. Jes 41,17; 49,13) – der Titel die „Armen“ zur Kollektivbezeichnung für ganz Israel. In dieser Tradition wendet sich Jesus in seiner Zeit an die Notleidenden, an die zur Armut Gezwungenen, ja sogar an die, die an ihrer Armut selbst Schuld sind: die Sünder, die an der Verstrickung in ihre Schuld zutiefst leiden. Allen diesen Armen ohne Unterschied und ohne jede Vorbedingung gelten die Seligpreisungen Jesu. Mit den Seligpreisungen ist das Charakteristische der Botschaft Jesu von der Gottesherrschaft markant und provokant auf den Punkt gebracht.
Jesu eigene Armut verbindet sich mit seinem Anspruch: Er lebt in konkreter Solidarität und Parteinahme mit den Zöllnern und Sündern (Lk 15,1f), mit den Ungeschützten und Kleinen (Lk 17,2), Verfolgten, Ausgestoßenen und Geschmähten (Lk 6,22f). In einmaliger Weise übernimmt Jesus (als Sohn Gottes) in seinem Menschsein, in seinem Tod am Kreuz und in seiner Auferstehung das Schicksal der Armen. Er identifiziert sich bis zum Äußersten mit ihnen: „Was ihr dem Geringsten meiner Brüder getan habt, das habt ihr mir getan.“ (Mt 25,40).

Für dieses Lebensprogramm fordert Jesus Nachfolge. Wer sein Jünger sein will, muss alles verlassen (Mt 8,22; Mt 16,24.25; Mt 19,21; Lk 5,11.28; Lk 12,33; Lk 14,33; Lk 18,22.28–30) und seine Existenz ganz auf Gott stellen, in einer ungeheuren Sorglosigkeit und Wehrlosigkeit (Mt 6,25ff; Mt 10,8–10. 16.19). Und Jesus meint damit nicht nur eine geistige Armut, sondern eine buchstäbliche, reale Armut als Bedingung für seine Nachfolge.

Die Chance der Weggemeinschaft

So ist auch Kirche als die Gemeinschaft der Nachfolgenden erst dort verwirklicht, wo sie ihrem Wesen entsprechend eine „dienende und arme Kirche“ ist. Armut ist die Basis für jede Art der Nachfolge: Sie führt zu einem christlichen Lebensstil und zu der Grundhaltung, in einer glaubenden, hoffenden und liebenden Ausrichtung auf das lebendige Wort Gottes, den Armen nahe zu sein.
Von dieser biblischen Sicht her lässt sich einordnen, warum Bischof Hemmerle es wagte, im Blick auf eine ärmer werdende Kirche von „positiver Armut“ zu sprechen. Er meinte nicht eine Kirche, die Nabelschau betreibt, sondern eine Kirche, die sich ihrer eigenen, realen Armut stellt und diese im Licht des Evangeliums fruchtbar macht. Der Weg einer Kirche, die ihre Armut anschauen kann, sollte zur Weggemeinschaft mit den Armen werden. Weggemeinschaft mit den Armen aber konzentriert alles auf eine einzige Ressource: die große Hoffnung auf Gott.
Hemmerle wusste, dass diese Hoffnung bei vielen Menschen verschüttet ist. Seine bedrängende Frage war in den ersten Jahren seines Bischofseins: „Glauben, wie geht das?“ Später hat er angesichts der Not vieler diese Frage korrigiert: „Leben, wie geht das?“ Hemmerle war der Ansicht, dass die zweite Frage die Nagelprobe für die erste ist. Mittlerweile ist in der Kirche für viele die Frage „Glauben und Leben, wie geht das?“ zur Überlebensfrage geworden: Wie und wo können wir über die eigenen Nöte sprechen, in denen wir als einzelne und als Kirche stecken? Es gibt nicht nur weniger Geld zu verteilen, sondern auch weniger pastorales Personal, weniger Ehrenamtliche, weniger junge Menschen, weniger Gottesdienstbesucher. Und dazu gibt es leider immer mehr an Resignation und Ratlosigkeit.
Bischof Hemmerle initiierte den Prozess Weggemeinschaft. Weggemeinschaft ist ein Weg mit den Armen angesichts der eigenen Armut und wird so zum Weg mit dem, der in seltener Radikalität nicht an dem Seinen festhielt, sondern lernte, hinzuhören auf die anderen und das Leben mit all seinen Widersprüchen bis zur letzten Konsequenz anzunehmen und zu bejahen. Im Sinne dieser tiefen Achtsamkeit und Solidarität birgt die Weggemeinschaft in der Nachfolge Jesu die ungeahnte Chance und Möglichkeit, dem Gott zu begegnen, der uns und vielen Menschen Hoffnung und Perspektive schenken kann. „Positive Armut“ lenkt den Blick auf einen anderen Reichtum: Dieser Reichtum ist verborgen im Acker unseres Lebens und im Acker derer, die arm sind.

Bischof Hemmerle hat positive Armut einmal so gedeutet:

„Miteinander teilen, das ist kein moralischer Zusatz zum harten Kern des Glaubens, sondern der Ernstfall des Glaubens. Und Teilen betrifft nicht nur die Notsituationen, wo es nicht anders geht, sondern Teilen will immer und überall der Lebensstil von uns Christen sein.“ (Hirtenbrief 1988)

Peter Blättler